MyStory Hanna Brungs
© Hanna Brungs
MYSTORY mit …

Hanna
57 Jahre, kreis euskirchen

„Ich war sehr lange auf der Suche nach mir
selbst und habe das zeitweise mit der Suche
nach anderen, materiellen Dingen verwechselt…“

Veröffentlicht: März 2023

Nacht der erkenntnis.

Es hat 47 Jahre gedauert, bis mein Leben überhaupt erst Sinn gemacht hat. Denn so lange brauchte es, bis ich in der Lage war, mir einzugestehen, dass da schon immer etwas sehr Essentielles nicht stimmte. Was das war, habe ich aber tatsächlich erst dann vollumfänglich verstanden.
Seitdem verstehe ich mein Leben, rückwärts betrachtet und vorwärts gelebt, überhaupt erst richtig!

Als Kind war das Bewusstsein, dass ich anders bin, zwar schon da, aber es war eher ein Hintergrundrauschen. Mit der Zeit häuften sich jedoch diese Erlebnisse, Begegnungen und Gedanken, die sich immer so unpassend angefühlt haben und die ich nicht richtig einordnen konnte. Diese Dinge zogen sich wie ein roter Faden durch mein Leben und erst im Nachhinein habe ich sie wirklich verstanden.

Als ich beispielsweise das erste Mal lackierte Fußnägel hatte – lange vor meinem inneren Outing – dachte ich nicht: „Oh, wie schön“, sondern „jetzt sieht das endlich mal richtig aus!“ Ich habe mich in der gleichen Sekunde noch über diesen Gedanken gewundert und nicht wirklich verstanden, wo er denn nun herkam.

Solche Erlebnisse gab es viele, alle irgendwie klein und unbedeutend, aber in der Summe absolut selbsterklärend.

Mit ungefähr 15 Jahren war ich, so sehe ich es heute, sehr nah dran, zu kapieren, was mit mir los ist. Ich habe zum Beispiel regelrecht darauf gewartet, dass sich meine Figur auch so entwickelt, wie bei meinen Freundinnen und mich gewundert, warum das nicht so ist. Wenn ich jetzt zurückblicke, war es recht deutlich. Aber damals konnte und wollte ich nicht weiter graben…

Viele Jahre später kam es dann zu meiner – wie ich sie nenne – „Nacht der Erkenntnis“. Die Nacht, an der alle Puzzlesteine meines Lebens endlich an den richtigen Platz gefallen sind. Die Nacht, in der ich dann verstehen musste, dass ich eine Frau bin und das immer schon gewesen bin. Diese Nacht, in der alles plötzlich und vollumfänglich einen Sinn ergeben hat. Einerseits war es schlicht großartig, endlich die Erklärung zu haben, für all das, was mich Jahrzehnte lang bewegt hat: „Hanna, du bist eine Frau und warst das immer schon. Vom ersten Tag deiner Geburt an hast du schon immer gedacht, gehandelt und gefühlt wie eine Frau.“ Andererseits war die Realisierung, in Wirklichkeit eine Frau zu sein, extrem schwierig zu meistern und ich pendelte zwischen Euphorie und Suizidgedanken hin und her! Das Thema „trans*“ stand vorher schon im Raum, aber ich wollte einfach nicht wahrhaben, dass auch ich trans* bin.

Und natürlich begleiteten mich dennoch Zweifel, so habe ich mir oft gesagt: „Du spinnst doch! Du bist doch krank!“. Deswegen habe ich es als ganz besonders empfunden, dass es nach meinem Outing einige Menschen gab, die mir sagten:

„Mensch Hanna, es wurde aber auch Zeit, dass du es selbst verstehst“!

Das half mir, diese allgegenwärtigen Zweifel in den Griff zu bekommen.

Die Reaktionen in meinem restlichen Umfeld waren bunt gemischt. Meine Eltern haben nichts davon erfahren, dass ihr vermeintlicher Sohn in Wirklichkeit eine Tochter ist, da sie bereits vor meinem Outing verstorben sind. Ich könnte auch nicht annähernd einschätzen, wie sie damit umgegangen wären. Ein Teil meiner Familie hatte die größten Umgangsschwierigkeiten damit und es wurde versucht, das Thema komplett auszublenden. Erst Jahre nach meinem Outing haben sie begonnen, sich mit der Situation wirklich auseinanderzusetzen. Heute ist alles gut, aber der Weg dahin war lang und schmerzhaft.

Gleichzeitig musste ich auch für mich einige wichtige Dinge klären. Mein internes Outing war das eine, aber wie sollte ich das umsetzen – insbesondere auf der Arbeit? Am Anfang glaubte ich noch, ich könne das aus meinem beruflichen Alltag komplett heraushalten, weiterhin so tun, als wäre ich ein Mann und mein wahres Ich eben nur in der Freizeit ausleben. Wie naiv ich damals noch war… Ich habe mir dann relativ zeitnah eine neue Arbeitsstelle gesucht. Natürlich habe ich mich dann aber auch gleich als die Frau beworben, die ich bin. Es hat ein wenig gedauert, aber heute bin ich schon knapp 8 Jahre bei meinem jetzigen Arbeitgeber, und habe vor etwa 2 Jahren meine jetzige Position übernommen.

Ich habe rückblickend für mich gemerkt, erst seitdem ich ich bin, mache ich so etwas wie Karriere. Ich habe immer gewusst, dass ich eine gute Mitarbeiterin bin, konnte aber nie so wirklich für mich einstehen. Seit 8 Jahren arbeite ich offen als Frau und finde es wirklich erstaunlich, wie weit ich beruflich schon gekommen bin. Von der Night-Auditlerin innerhalb von ein paar Wochen zur Empfangsleitung und Serviceleitung, danach Standortleitung mit einem Team von 21 Mitarbeiter_innen und nun in meiner Traumrolle.

Ich resümiere das für mich so: Ich musste erst verstehen, dass ich eine Frau bin, um genau so selbstsicher auftreten zu können, wie Männer das ja üblicherweise tun.

Mein Outing und meine Transition haben natürlich nicht nur Veränderungen auf der Arbeit mit sich gebracht, sondern auch in der Beziehung zu meiner Frau. Wir sind nun seit über 27 Jahren zusammen und wir haben für uns feststellen dürfen, dass trotz der Veränderungen und trotz der unruhigen Zeit während meiner Transition, unsere Beziehung an Qualität und Tiefe gewonnen hat! Die allermeisten, die uns noch von früher kennen, akzeptieren uns einfach so, wie wir sind und sollte es doch irgendwann mal zu Nachfragen kommen, ist unsere Message: Liebe kennt kein Geschlecht!

Ich kann heute sagen: Ich bin angekommen!

Ich war sehr lange auf der Suche nach mir selbst und habe das zeitweise mit der Suche nach anderen, materiellen Dingen verwechselt – und ich musste feststellen, dass diese Dinge mich eben nicht wirklich glücklich machten. Das wahre Glück habe ich in mir gefunden und erst seitdem ich mich selbst gefunden habe, weiß ich, was Glück wirklich bedeutet!

Hanna, vielen Dank für YourStory!
Dr. Rolf Schmachtenberg / BMAS
© J. Konrad Schmidt / BMAS
MYSTORY mit …

Rolf
64 Jahre, Berlin

„Mir war es immer wichtig,
mit Kindern zu leben, durch Kinder
ein Band zur Zukunft zu haben…“

Veröffentlicht: März 2023

Lange Wege.

Als ich das erste Mal mit einem Mann Sex hatte, war dies noch verboten – es geschah im damaligen Westdeutschland. Kurz danach verdichteten sich die Gerüchte über einen neuentdeckten Virus. Tödlich. Bald war klar, dass homosexuelle Männer besonders betroffen waren. Der Spiegel schrieb dann von der „Schwulen-Pest“, in Übersetzung des Begriffs Gay Plague. Vorsicht war angesagt.

Heute lebe ich in einer anderen Welt. Bin mit einem Mann verheiratet. Und Kinder haben wir auch.

Das wäre nicht möglich ohne grundlegende Änderungen unserer Gesetze während der letzten 30 Jahre. Was heute selbstverständlich scheint, war damals Wunschtraum oder sogar undenkbar.

Mich hat es befreit. Zu meinem Coming-Out kam ich erst, als ich nach Berlin umgezogen war, recht spät, mit 35 Jahren. Mein Leben wäre anders verlaufen, hätte ich es früher für mich klar gehabt und auf den Punkt gebracht, wer ich bin und wie ich liebe. Viel zu lange schwankte ich mit einer vagen Idee von Bisexualität. Heute denke ich, das lag damals auch daran, dass ich mir gar nicht vorstellen konnte, wie ich meinen Kinderwunsch und meine Liebe zu Männern miteinander vereinbaren könnte.

Ich bin allen sehr dankbar, die mir in meinem Leben auf diesem Weg Mut zugesprochen, ihn ermöglicht haben. Und ich freue mich für jede*n, der für sich früh Klarheit hat und verstehe jede*n, der dafür Zeit braucht. Dabei kann der offene Umgang in queeren Netzwerken Ermutigung geben. Und die gibt es mittlerweile in vielen Bundesbehörden, darunter auch die Ressorts der Bundesregierung.

LSBTIQ*-Beschäftigte erfahren immer noch viel zu oft Diskriminierung am Arbeitsplatz. Schon der kleine Smalltalk am Kaffeeautomaten kann schnell zu einem ungewollten Outing führen. Oft genug hängt von ihren Reaktionen der Vorgesetzen und Kolleg*innen nicht nur das Wohlbefinden am Arbeitsplatz, sondern auch die berufliche Zukunft ab. Doch nur wer sich wohlfühlt kann die beste Arbeitsleistung erbringen. Organisationen Unternehmen und Verwaltungen können aktiv zu einer inklusiven Unternehmenskultur beitragen. Auf INQA.de lesen Sie wie besonders Netzwerke oder betriebliche Interessengruppen zu einer besseren Arbeitssituation von LSBTIQ*-Beschäftigten beitragen können.

Um Diskriminierung zu beenden braucht es die Unterstützung der nicht Betroffenen. Denn durch aktives Solidarisieren (Allyship) können Unternehmen die Vielfalt in der Arbeitswelt fördern. Auf INQA.de lesen Sie fünf Tipps, wie sich Führungskräfte und Beschäftigte beim Thema Diversity engagieren und zeigen: Wir sind Allys!

ROLF, vielen Dank für YourStory!
MYSTORY mit …

Safir
31 Jahre, Berlin

„Ich vergaß, dass ich mir Flexibilität, Experimente
und Unvollkommenheiten auf meinem Weg leisten konnte;
dass ich in Überschneidungen und Gleichzeitigkeiten, in Vielfältigkeit leben konnte…..“

Veröffentlicht: Dezember 2022

Identitäts-Updates.

Vor kurzem hat mich eine Freundin per Text gefragt: „Bist du nicht-binär?“.

Ich habe zuerst vor meinem Telefon gelacht, denn für mich war es einfach das Offensichtlichste. Meine Pronomen sind überall zu sehen, von Instagram bis LinkedIn, ich poste gelegentlich ein nicht-binäres Meme auf Instagram, habe meine „they/them“ sogar in meiner Mailsignatur; insgesamt lebe ich ein ziemlich offenes Leben.

Ich wusste auch, dass diese Person es nicht böse meinte, die Frage kam aus echtem Interesse und Fürsorge. Dennoch fand ich es komisch, weil mir eines klar wurde: Ich hatte einfach vergessen, mich ihr gegenüber zu outen, und trotz aller Anzeichen war sie sich nicht sicher, weil ich ihr wie ein Mann erschien. Ich präsentierte mich wie ein Mann, also war ich auch einer, oder? Ich vergaß, dass es wichtig war, die Leute über alle „Updates“ in Bezug auf Geschlecht, Sexualität, Religion usw. zu informieren.

Ich hatte mich so sehr daran gewöhnt, meine Identität zur Schau zu stellen, dass ich schließlich vergaß, dass ich sie von Zeit zu Zeit aktualisieren musste und, dass sie in Wirklichkeit gar nicht so offensichtlich war. Die Leute kannten mich schon seit Jahren als Safir, Algerier_in, queer, schwul, Ex-Muslim_in, cisgender, ohne körperliche Behinderung, Immigrant_in, mit niedrigem Einkommen usw. Da ich so viele Jahre brauchte, um mich damit abzufinden, wie sehr ich mich von allen anderen auf der Welt unterscheiden würde, habe ich meine Identität unbewusst „festgelegt“, so wie manche sich auf Verträge festlegen.

Ich vergaß, dass ich mir Flexibilität, Experimente und Unvollkommenheiten auf meinem Weg leisten konnte; dass ich in Überschneidungen und Gleichzeitigkeiten, in Vielfältigkeit leben konnte.

Es ist für mich nicht erforderlich mich einzugrenzen, damit ich in irgendwelche vorgefertigten Schubladen passe.

Meine Antwort auf die Nachricht lautete daher: „Ja, bin ich. Lass uns am Wochenende darüber reden :)“. Nach diesem Austausch musste ich darüber nachdenken, wer ich war.

War ich tatsächlich Algerier_in? Natürlich war ich das, aber ich hatte inzwischen auch herausgefunden, dass ich mich insgesamt viel mehr mit meinen amazighischen und afrikanischen Wurzeln identifizierte als mit einer Nationalen.

War ich queer? Auch das war ziemlich sicher. Schwul? Nun, das bedurfte eigentlich eines kleinen Updates. Mit 18 Jahren habe ich mich zum ersten Mal als bisexuell geoutet, aber die Leute sagten mir damals immer, dass ich schwul sei, also habe ich es als mein Schicksal akzeptiert, ohne es zu hinterfragen. Mehr als 10 Jahre später muss ich es ganz klar sagen: Ich bin nicht schwul. Ich bin in der Tat näher an der Omnisexualität als an irgendetwas anderem, aber ich akzeptiere auch die Bezeichnung pansexuell.

Was ist mit Ex-Muslim_in? Schwierige Frage. Ich habe diesen Teil von mir so lange verleugnet, weil ich das Gefühl hatte, dass die Gesellschaft diesen Teil von mir am meisten hasst (sogar noch mehr als mein Queersein, ist das zu glauben?). Heute kann ich zugeben, dass es Teil einer notwendigen Überlebensstrategie war, um mich davon zu distanzieren, wie wir auf der ganzen Welt wahrgenommen wurden. Ich hatte gehofft, dass ich dadurch die Chance hätte, weltweit besser behandelt zu werden. Ehrlich gesagt haben mich die Jahre gelehrt, dass ich, egal wie weit ich mich von der muslimischen Kultur (meiner Kultur) entfernte, immer und ewig unter Islamfeindlichkeit leiden würde, sodass ich mir meinen Glauben zu eigen machen konnte. Ich versuche jetzt auch, mich dem Islam aus einer erwachsenen, nicht wertenden Perspektive zu nähern und ich muss gestehen: Es steckt viel Schönheit und Frieden darin.

Cisgender Safir? Nun, das war eine eklatante Lüge. Ich wusste immer, dass ich nicht in das binäre Geschlechtsspektrum falle, aber ich habe mich selbst und alle anderen belogen, weil es zu schwierig war zuzugeben, dass ich die gängige Vorstellung davon, was Geschlecht ist, „überschreiten“ würde, dass die meisten Menschen das nie verstehen würden. Es war eine so befreiende und freudige Erfahrung, mit einer_m meiner besten Freund_innen zum ersten Mal darüber zu sprechen. Die Augen öffneten und weiteten sich mit einer unglaublichen Wärme. Ich sagte, dass Geschlecht für mich ein Konstrukt ist, das ich nur schwer verstehen kann, dass ich mich weder als Mann noch als Frau fühle, weder männlich noch weiblich, dass ich mich nicht wie 50/50 fühle, sondern eher wie gar nicht. Ich verstehe zwar, wie wichtig das Geschlecht für manche ist und respektiere es, aber ich möchte nicht, dass das Geschlecht mich definiert, ich fühle mich weit davon entfernt, als wäre es für mich nicht wichtig. Heute würde ich mich selbst als Agender bezeichnen: eine Person, die sich nicht einem Geschlecht zugehörig fühlt. Mein_e beste_r Freund_in empfing die Nachricht mit einem Lächeln, einer Umarmung und einer einfachen Frage: „Wirst du von nun an ein bestimmtes Pronomen verwenden?“.

Was ist mit meinem Leben ohne körperliche Behinderung? Bis heute stimme ich dieser Aussage zu, aber wer weiß, was in der Zukunft passieren wird? Ich könnte noch weiter über all die anderen Seiten meiner Identität schreiben, aber ich glaube, Ihr habt es schon verstanden. Updates sind für mich notwendig. Nicht nur für andere, sondern vor allem für sich selbst. Wenn ich mich regelmäßig selbst frage, wie ich mich fühle, bekomme ich ein tieferes Verständnis dafür, wer ich als Individuum und als Teil unterschiedlicher Communities bin. Im Wissen liegt so viel Kraft.

Mein Coming-Out war nie linear (und wird es auch nie sein).

Es geschieht immer noch jeden Tag: montags über das Geschlecht, mittwochs über die Sexualität. Am wichtigsten ist, dass es sich in mir jeden Morgen verändert. Immer nur leicht, aber fließend. Ist meine Erfahrung einzigartig? Wahrscheinlich nicht. Ist meine Erfahrung universell? Absolut nicht! Sollten wir also von jeder_m erwarten, dass er_sie seine_ihre Erfahrungen genauso lebt wie wir? Nach der westlichen Ideologie scheint es, dass sich jede_r outen sollte.

Glaubt mir, unsere einmaligen Erfahrungen sollten niemals zur Regel gemacht werden. Ein Coming Out ist nicht obligatorisch. Man kann auch ein schönes, gesundes und positives Leben führen, ohne solch intensive Momente durchleben zu müssen. Einige von uns werden sich nie outen und wir sollten niemanden dazu zwingen. So wie wir uns selbst empowern, sollten wir auch anderen in ihren eigenen Erfahrungen empowern.

Safir, vielen Dank für YourStory!
MYSTORY mit …

VICKY
33 Jahre, München

„Über die Jahre wurde Drag ein immer größerer
Teil von mir, der für mich nicht nur eine Kunstform
darstellt, sondern auch die spielerische
Konfrontation mit meiner Persönlichkeit zulässt. …“

Veröffentlicht: Oktober 2022

(M)eine reise in drag.

Vicky Voyage ist immer eine Reise wert.

Mit meiner Drag Persönlichkeit Vicky Voyage nehme ich euch mit auf eine abwechslungsreiche Spritztour in die Welt der Drag-Kunst. Mit Charisma und Witz präsentiere ich als internationale Performerin, Moderatorin und Unterhalterin durchdachte und clevere Konzepte mit extravaganten Outfits und starkem Make-Up. Ich serviere auf meinen Stopps verschiedensten Augenschmaus: Unter anderem war ich als fulminante Feuerfee (CSD München 2018), als schillernder Schmetterling (CSD München und Wien 2019), sagenumwobene Schneekönigin (Drag Voyage Kalenderprojekt 2022) und auch als liebevolle Lokalmatadorin im Dirndl (auf verschiedenen Events) unterwegs. Auf Galas und Parties, in Shows und im Theater: Mit Pole Dance, einem Hauch von Akrobatik oder auch nur mit meiner prallen Präsenz lade ich das Publikum zum Staunen ein.

Über die Jahre wurde Drag ein immer größerer Teil von mir, der für mich nicht nur eine Kunstform darstellt, sondern auch die spielerische Konfrontation mit meiner Persönlichkeit zulässt.

Nachdem die Pandemie – nach vielen verschiedenen Veranstaltungen – die Welt schließlich nahezu zum Erliegen brachte, kam mir, während der Lockdown-Phase, die Idee zum ersten professionellen Drag Kalender Deutschlands. Auftritte waren nicht möglich, Projekte fielen weg – ein neues musste her. Da sich die Drag Szene auch in Deutschland weiterentwickelt hat, wollte ich mit dem Kalender gerne einen kleinen Einblick in die Facetten verschiedener Charaktere geben und euch zusammen mit anderen Künstler:innen mit auf meine Reise durch die wunderbare Welt des Drag nehmen. Entdeckt mit mir fabulöse Kings & Queens aus München und Augsburg und wie sie mit diverserer und kunterbunter Kunst spielen, immer geleitet von der Frage: Was bedeutet Drag für die Künstler:innen, was bedeutet es für dich?

Mit dem Bild, das ihr seht, das Motiv für den Dezember 2022, wollte ich etwas ganz bestimmtes ausdrücken. Mein Thema war:

#legendary: I write my own story and walk my own path – preferably in high heels.

Angelehnt an Aschenputtel soll das Bild verdeutlichen, dass ich nicht auf meinen Prinzen warten muss, bis ich ein erfülltes Leben haben kann, sondern dass ich als starke Persönlichkeit meinen eigenen Weg wählen und gestalten sowie dabei für mein eigenes Glück verantwortlich sein kann.

Für den Verkauf des Kalenders habe ich nicht nur meinen eigenen Webshop eingerichtet, sondern habe mit verschiedenen Händler:innen zusammengearbeitet, die in ganz Deutschland und auch in Österreich und der Schweiz den Kalender vertrieben haben. Obwohl das Produkt „Kalender“ im Jahr 2022 nicht mehr in jedem Haushalt zu finden ist und die Drag-Motive nicht alle Menschen gleichermaßen anspricht, wurde der Kalender mit unseren persönlichen und ausdrucksstarken Bildern quer durch die Gesellschaft gut angenommen. Es wurden fast alle 1.000 Exemplare verkauft oder sozialen Projekten gewidmet. Es waren tolle neue Erfahrungen und das ganze Team kann stolz auf das Ergebnis sein. Hier nochmals ein herzliches Dankeschön an alle, die so motiviert mitgewirkt und zum erfolgreichen Endergebnis beigetragen haben.

Da ich hoffe, dass sich die Corona-Situation bessert und wieder mehr Möglichkeiten zugelassen werden, widme ich mich 2022 und auch den nächsten Jahren als Unterhalterin, Moderatorin, Performerin oder auch Organisatorin wieder verstärkt Events, da darf zum Beispiel der CSD in München nicht fehlen oder auch eine Drag Show in meiner Allgäuer Heimat, die für 2023 geplant ist.

Zudem will ich zukünftig gerne versuchen, meinen Ingenieurwesen-Hintergrund verstärkt mit meiner Kunst zu verbinden, denn die Reise von Vicky Voyage ist noch lange nicht zu Ende.

Liebe VICKY, vielen Dank für YourStory!
MYSTORY mit …

Bakry
42 Jahre, Berlin

„Jede erlebte Diskriminierung in einem
bestimmten Kulturkreis ermöglichte es meinem
Verstand, mich gegen Unterdrückungen und
Mikroaggressionen anderer sozialen Gruppen zu wappnen. …“

Veröffentlicht: Juni 2022

Verwobene Identitäten.

Ich bin Mischling, Cis-Mann, mittleren Alters, homosexuell, ohne bisher festgestellte Behinderung, Franzose, kein deutscher Muttersprachler (der akzent- und fehlerfrei Deutsch spricht), aus dem Proletariat kommend, der einen Bildungsaufstieg erlebt hat. Ich bin das alles und sogar noch viel mehr.

Das Coming Out ist mir fremd, würde ich sagen. Als ich ungefähr 18 war, arbeitete ich für das Hotel Central, eines der ersten gay Etablissements aus den 80ern in Paris. Nach meiner ersten Schicht erzählte ich meiner Mutter meine ersten Eindrücke über diesen LGBT*IQ-Ort. Sie fragte mich, ob alle meine Kollegen gay seien. Meine Antwort lautete ja. Anschließend fragte sie mich, ob ich selbst schwul sei. Meine Antwort lautete ja. Das war es, meine bedeutungslose kräftige Aussage über meine sexuelle Identität. Alles in allem war es eine paradoxale insignifikante Erfahrung für einen Gay- PoC aus einem proletarischen Migrantenviertel, Ende der 90er. Ich hatte nie das Bedürfnis oder den Zwang, mich zu erklären. Ich war „openly gay“ wie einen Cis-heterosexueller Mann „openly straight“ sein könnte: ereignislos. Einige Monate später, als ich zu meinem ersten Freund umzog, kam regelmäßig mein jüngster Bruder zu Besuch, um mit meinem Freund Videogames zu spielen. Das Leben eben.

Hingegen habe ich mehrmals intersektionale Queer Awakenings erlebt, die ich im Nachhinein begriffen habe. Nach der Lektüre von „Die Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon ist mir bewusst geworden, dass mein Ich-Schwul-Sein eine Rolle in meinem Bestreben, etwas anderes zu werden als das, wozu mich der Determinismus der sozialen Reproduktion trieb, gespielt hat. Tatsächlich fühlte ich mich hingezogen, andere Sphären zu betreten, um meinesgleichen zu begegnen.

Ich verspürte die Notwendigkeit, die widersprüchliche Vielfalt meiner verwobenen Identitäten zu verstehen und sie miteinander in Einklang zu bringen. Das war sinnlos.

Damals, weder in der Gay-Szene noch in anderen subkulturellen Räumen, konnte ich ein Gefühl von kompletter Zugehörigkeit spüren. Egal in welchen sozialen Gruppen ich mich befand, tauchten ausnahmenlos Unterdrückungsmechanismen auf. Es gab kein meinesgleichen, sondern das ewige Ballett von Zuschreibungen und Selbstbestimmungen. Immer wieder beobachtete ich, wie sich die sozialen Interaktionen in binären sozialen Gegensätzen neu definieren ließen. Allerdings: Jede erlebte Diskriminierung in einem bestimmten Kulturkreis ermöglichte es meinem Verstand, mich gegen Unterdrückungen und Mikroaggressionen anderer sozialen Gruppen zu wappnen.

Nehmen wir das Beispiel der Sprache, die über ihre kommunikative Funktion hinaus auch ein strukturierendes Element der Kultur ist. In der Tat kann sie ein Instrument der Stigmatisierung oder eine Zuweisung für soziales Prestiges sein. So half mir die Verve der jugendlich ätzenden Gossensprache der multikulturellen urbanen Welt meines Quartiers, Barbès, sowohl die (un)bewusst rassistisch geprägten Sprüche als auch die ironisch ausgrenzende Schlagfertigkeit der dominierenden weißen Männer der Queer-Community abzuwehren. So half mir der schamlose schwarze Humor der Queer-Szene, mich von meiner Scham über meine proletarische Sprache zu befreien. So half mir die schamlose Kühnheit der Sprache meiner Klasse, fremde Sprachen schamlos mit Akzent und Fehlern zu sprechen. Alle diesen Facetten meiner Identität unterstützen mich bei der Navigation in einer Gesellschaft, deren Normen und Abweichungen ständig verhandelt werden. Man könnte diese Anpassungsfähigkeit als Verstellung wahrnehmen, aber ich würde es als soziale Performativität der Vielfältigkeit eines Individuums bezeichnen.

Mittlerweile war meine PoC-Queer-Identität ein Vorteil bei meiner D&I-Beratungsarbeit mit der Agentur Ozecla in Frankreich, um Unterdrückungsmechanismen und die verzerrenden Filter der Menschen zu dekonstruieren.

Es kam häufig vor, dass in weißen feministischen Milieus die Wechselhaftigkeit der sozialen asymmetrischen Dynamiken in Bezug auf die Verteilung der Machtverhältnisse aufzuklären war. Insofern, als das weiße Frauen darauf hinzuweisen waren, dass sie gegenüber einem Queer schwarzen Mann aufgrund ihrer dominierenden weißen heteronormativen-cisgender Identitäten Unterdrückungsformen ausüben könnten.

Es erfordert viel Resilienz von mir, die Abwehrmechanismen einer unterdrückten Gruppe zu ertragen, wenn ich sie über ihre eigenen Unterdrückungsmechanismen aufkläre. Dieses Phänomen begegnet mir immer wieder in den letzten Jahren auch in Deutschland – sowohl bei meiner D&I-Arbeit in der Queer-Community als auch während meines Engagements in meiner Hauptbeschäftigung. Es ist eine belastende Herausforderung, die gesellschaftlichen Mechanismen von Rassismus, Queer-Feindlichkeit und Sexismus aufzudecken und zu denunzieren. Aber als schwarzer Queer-Mann mit intersektionalen Ansichten kann ich nicht anders.

Lieber Bakry, vielen Dank für YourStory!
MYSTORY mit …

Albert
51 Jahre, München

„Ich gehe jeden Tag in die Arbeit und
kann sagen „I am what I am“! …

Veröffentlicht: Mai 2022

Die Wanderung.

Ich erinnere mich noch gut an meine Schulzeit. Ich wuchs in einem sehr katholischen Umfeld auf. Katholische Klosterschule. Frühe 80er Jahre. In der 7. und 8. Klasse, die Pubertät in vollem Gange. Gleichzeitig war HIV/Aids ganz groß in den Schlagzeilen. Alles, was man damals wusste, war, dass man daran stirbt. Und so wurde ich geprägt – es gab ein Richtig und ein Falsch. Schwul = AIDS = falsch.

Erst viel später hat sich bei mir herauskristallisiert, dass ich schwul bin. Mein Coming Out hatte ich erst während meines Studiums. Nach dem Vorstudium ging ich für einen Masterstudiengang nach Wales. Welch gute Gelegenheit, auch meine sexuelle Orientierung zu entdecken. In diesem Findungsprozess musste ich gleich erleben, wie ein junger Schwuler durch den Ort gehetzt wurde. Schon wieder wurde in mir eingebrannt: schwul = falsch.

Aber, ich habe mich getraut. In London dann, nach meinem Studium, erlebte ich eine weltoffene Stadt, mit schwulen Bars, die Schaufensterscheiben hatten. Jeder konnte reinsehen. Was für ein befreiendes Gefühl. Zurück in meiner Heimatstadt Augsburg erlebte ich dann eine komplett andere Szene: Ich musste klingeln, um eingelassen zu werden. Die Fenster waren verklebt, damit uns keiner sieht.

Aber ich ließ mich jetzt nicht mehr unterkriegen, denn ich kannte ja London. Nahm am allerersten CSD in Augsburg teil und fühlte mich neben 20 anderen Personen superstolz.

Mein Berufsleben begann mit den üblichen „cost of thinking twice“. Damals war mir das noch nicht bewusst, denn meine gelernte Formel war ja „schwul = falsch“, also warum davon in der Arbeit erzählen. Ich war halt mit einem Freund oder mit Freunden unterwegs, mehr privates gab es von mir nicht. Bis mir ein Freund auf einer Wanderung mit dem Gay Outdoor Club erzählte, dass er bei BCG komplett out ist, dass sie ein Netzwerk haben und Dinge bewegen. Und natürlich kannte er einen Schwulen bei IBM, meinem damaligen Arbeitgeber. Er schrieb ihm direkt, dass da ein Kollege bei IBM ist, der ein Netzwerk unterstützen würde. Es dauerte keine 48 Stunden, bis seine Mail von dem Schwulen in Miami an einen Schwulen in London weitergeleitet wurde und der, Ken war sein Name, mich anrief.

Bis heute kennt Ken nur Regenbogenbunt, zurückstecken für die Community gibt es für ihn nicht. Seine erste Frage war: „Are you out? If yes, I can make you attend the next LGBT leadership conference at IBM New York next week.” Natürlich war ich nicht geoutet, und somit der Trip nach New York passé. Aber innerhalb der nächsten Woche outete ich mich gegenüber meinem Chef und meine Reise zum Thema LGBT*IQ am Arbeitsplatz begann. Ich gründete das LGBT*IQ-Netzwerk bei der IBM Deutschland, engagierte mich zu dem Thema auf europäischer Ebene innerhalb der Firma und bekam die erste Stelle in Europe im Vertrieb der IBM als sogenannter „GLBT Business Development Executive“.

Ich habe mir in all der Zeit hin und wieder richtig dumme Sprüche anhören müssen, manche davon machten mich sprachlos, aber echte Diskriminierungen habe ich nie erlebt. Die Unterstützung, die ich von den Out Executives bei IBM erlebt habe, haben in mir ein Selbstbewusstsein aufgebaut, sodass ich das Thema heute angstfrei vertrete. Über die verschiedenen Rollen, die ich bis heute innehatte, durfte ich Out-Persönlichkeiten, aber auch Allies kennenlernen, die mich inspiriert haben und nach wie vor antreiben, mit meinem Engagement weiterzumachen. PROUT AT WORK ist die Plattform dafür geworden, Jean-Luc wurde mein Partner in crime. Gemeinsam sind so tolle Ideen entstanden, haben wir uns gegenseitig ermutigt, dass PROUT AT WORK heute das ist, was es ist. Und ich jeden Tag motiviert in die Arbeit gehe und sagen kann „I am what I am“. Danke an alle, die mich zu dem werden haben lassen, der ich bin.

Lieber Albert, vielen Dank für YourStory!
MYSTORY mit …

Leon
43 Jahre, Hannover

„Manchmal braucht es Zeit
und Vorbilder, die
Veränderungen herbeiführen. …“

Veröffentlicht: Mai 2022

EIn Leben, Zwei Outings plus Migrationsgeschichte – Eine Schublade ist genug!

Seit meiner Geburt und in den ersten Momenten der Wahrnehmungen meiner selbst wusste ich, dass ich nicht in dieses vorhandene Körperkostüm und in die „klassische“ Rollenverteilung passte. Die zugewiesenen Farben (Rot und Pink) und die Vorstellungen der Gesellschaft waren mit meinem Ich nicht kompatibel. Ich wurde dennoch – ohne dass man mir zuhörte oder mich in meinem Dasein erkannte – in das weibliche System gedrückt. Sei es durch die Erziehung oder die gesellschaftlichen Vorgaben in Kindergarten, Schule, Ausbildung und Arbeitswelt. Damals waren Transidentität und Intergeschlechtlichkeit noch nie so sichtbar wie heute.

Es gab keine Wissensvermittlung, Anlauf- und Beratungsstellen – einfach nichts, obwohl trans* und inter* Menschen existieren, seitdem es Lebewesen auf dem Planeten Erde gibt.

So wehrte ich mich von Kindesbeinen an gegen dieses weibliche Kostüm und flüchtete viele Jahre in die lesbische Schublade, in der ich für meine damaligen Begriffe annährend ich sein, männliche Kleidung tragen durfte und mich so verhalten konnte wie ich wollte, eben für mich nicht weiblich. Ich nahm dieses „Versteck“ in Kauf und outete mich wie selbstverständlich bei allen Menschen in meinem Umfeld als lesbisch. Die Reaktionen, vielen Fragen, Vorurteile und Diskriminierungen waren mir aufgrund meiner schottisch-türkischen Migrationsgeschichte von klein auf sehr geläufig – ich war quasi schon „trainiert“ darin, diese Diskriminierung auf allen Wegen auszuhalten zu müssen. Was blieb mir auch anderes übrig?

Meine Mutter war nicht überrascht und meinte, ich sei ja sowieso immer wie ein Junge gewesen. Mit dem Unterschied, dass ich schon immer einer war und bin. Sie wusste es nicht besser, woher denn auch? Der Rest der deutsch-schottisch-türkischen Verwandtschaft reagierte unterschiedlich. Von „das wussten wir schon immer“ bis „dieser Mensch kommt nicht mehr in mein Haus“ war alles dabei.

Es war ein enormer Kraftakt für mich, all die Jahre in mir selbst gefangen zu sein. Jedes Mal, wenn ich den Mut hatte, wirklich „herauszukommen“, passierte etwas, das mich zurückwarf: aus Angst vor den Reaktionen meiner Familie, Freund_innen, Kolleg_innen, Angst vor dem Verlust meines Traumberufes, Angst vor der Trennung meiner damaligen Frau. Und irgendwann lernst du, diese Rolle zu spielen, versuchst dir einzureden, es wird schon auch so irgendwie lebenswert sein.

Doch das ICH-sein-dürfen, frei sein können und der Wunsch, dieses Körperkostüm verschwinden zu lassen, wurde im Laufe der Jahre immer stärker und stärker. Sich vor dem Spiegel anzuschauen und – damals als Kind wie im Erwachsensein – den Wunsch zu verspüren, diesen Ballast einfach abzuwerfen und endlich glücklich und frei sein zu können … dieser Traum, dieses Gefühl war kräftezerrend und unerreichbar, denn ich konnte nicht aus mir heraus. Die Angst war viele Jahre zu groß.

Immer, wenn Beiträge über trans* Menschen erschienen oder ich sie auf dem CSD sah, kam dieses Gefühl und der Wunsch nach Freiheit hoch. Innerlich war ich zerrissen, aber ich versuchte, zu funktionieren, immer wieder aufzustehen und mir einzureden „du schaffst das schon“.
Als ich mich 2018 bei meiner Frau outete und über den großen Wunsch sprach, mich aus den Ketten des Leidens lösen zu wollen, weil ich so nicht mehr kann und will und mich genauso fühle wie Balian B., löste ich großes Entsetzen aus und musste die klassischen Reaktionen über mich ergehen lassen:
„Du willst doch kein Mann sein. Ich liebe dich so, wie du bist. Ich liebe deine weibliche Oberweite. Klar bist du sehr männlich, aber ich mag auch die weibliche Seite. Ich möchte keinen Mann mit Bart und vielen Haaren. Du bist doch gut so wie du bist, warum meinst du, nun ein Mann sein zu wollen? Wenn du das tatsächlich machen wirst, dann lasse ich mich scheiden …“

Das war nur ein Bruchteil der Sätze, die mir durchs Mark rauschten und jedes Mal höllische Schmerzen verursachten. Ich liebte diesen Menschen über alles, und ich versuchte, auch ihre Seite zu verstehen, aber wollte sie mich denn verstehen? Nach dem Gespräch mit meiner Frau entschied ich mich zunächst für uns und unsere Ehe und versuchte, die Sehnsucht wieder zu vergraben. Nur merkte ich, dass es mir nicht mehr so gut gelang, da die Sehnsucht und der Leidensdruck sehr schwer auszuhalten waren. Zweieinhalb weitere lange Jahre und immer wiederkehrende Gespräche mit meiner Frau später: „Wenn du das tust, lasse ich mich scheiden.“

Dann lernte ich tolle Menschen kennen, die genauso waren wie ich, mit identischen Lebensgeschichten. Diese beiden Menschen gaben mir die Kraft für meinen nächsten Schritt: 2020 kam Corona und aufgrund der vielen Streitigkeiten mit meiner Frau zog ich vorübergehend mit meinem damaligen Hund, einer französischen Bulldogge, aufs Land.

Dort hatte ich viel Zeit zum Nachdenken – das erste Mal, dass ich mir viel Zeit für mich nahm und nicht immer nur für andere Menschen parat- oder zurückstand. Endlich war ich dran!

Einfach ALLES aus den vergangenen Jahren kam nach oben geschossen wie eine Tornadowelle. In den 4 Wochen veränderte sich mein Leben im Sekundentakt. Meine Frau verwirklichte ihre Androhung und ich stand alleine da. Und durch einen örtlichen Berufswechsel stand ich auch dort vor einem Neuanfang.

Ich nahm nach 41 Jahren all meinen Mut zusammen und outete mich ein zweites Mal. Wenn nicht jetzt, wann dann? Zunächst bei meinem inneren Freundeskreis, dann bei meinen Kolleg_innen und zu guter Letzt bei meinen Vorgesetzen. Die Resonanz war überwiegend sehr positiv!

Seit 2 Jahren fühle ich mich endlich frei und ich bin froh, diesen wichtigen Schritt gegangen zu sein, auch wenn er aus vielen unterschiedlichen Gründen viele Jahre gedauert hat. Manchmal braucht es Zeit und Vorbilder, die Veränderungen herbeiführen. Heute darf ich ein Vorbild sein und möchte vielen Menschen Mut machen. Hab keine Angst, denn Du bist nicht alleine! Es ist wichtig, geschlechtliche Vielfalt und die unterschiedlichen Facetten sichtbar zu machen und das Wissen darum in alle Bereiche zu bringen. Rückblickend frage ich mich manchmal, woher ich die Kraft entwickelt hatte, immer wieder aufzustehen und weiterzugehen. Es waren die vielen tollen Menschen um mich herum, die mir Kraft und Mut gegeben haben. Natürlich auch meine Lust und Freude am Leben und die Tatsache, anderen Menschen Mut und Kraft geben zu können.
Die Erlebnisse haben mich zu dem Menschen geformt, der ich heute bin, mit all meinen Facetten:

Mein Name ist Leon Dietrich, mein Geburtsort ist die Erde, meine Nationalität ist Mensch, meine Politik ist die Freiheit, meine Religion ist die Liebe und ich liebe Menschen und unsere Demokratie!

Lieber Leon, vielen Dank für YourStory!
MYSTORY mit …

Oxana
34 Jahre, Hamburg

„War man einmal drin, öffnete sich diese
Parallelwelt, in der alle sich kannten und
man so sein durfte, wie man wollte. …“

Veröffentlicht: May2022

Parallelwelten.

Ich komme aus Russland – dem Land, das heute mit Krieg, Gewalt, Propaganda und Homophobie in Verbindung gesetzt wird. Und es ist kaum zu glauben, dass ich in meiner Jugend, also in den 2000er Jahren, die wahrscheinlich liberalste und freieste Zeit dieses Landes erlebt habe. Das war die Zeit, in der das Pop-Duo „t.A.T.u.“ auch in Europa und in den USA bekannt wurde. Damals störte es in Russland keine_n, dass sich zwei Mädchen auf der Bühne küssten. Viele Mädchen gingen dann auch auf den Straßen in kurzen Röcken Hand in Hand, wie im Video All The Things She Said. Es gab auch andere russische Künstler_innen, die in ihren Lieder und Videos homosexuelle Andeutungen machten. Damit bin ich groß geworden.

Als ich noch Schülerin war, wusste ich zwar, dass es Homosexualität gibt, habe mich aber nicht damit identifiziert. Ich hatte immer enge Beziehungen mit meinen Freundinnen, auch Händchen gehalten und in einem Bett geschlafen. Das war alles harmlos und fühlte sich normal an. Ich wusste auch, dass es in einer Parallelklasse einige Mädels gab, die angeblich auf Frauen standen. Darüber wurde nur geflüstert (später habe ich sie dann auf den Lesbenpartys gesehen). Als ich in einem Feriencamp ein Mädchen kennenlernte und jedes Mal eifersüchtig war, als sie von Jungs erzählte, konnte ich meine Gefühle nicht zuordnen.

Die Tatsache, dass ich auf Frauen stehe, wurde mir erst mit 17 klar, nachdem eine junge Frau in einem heterosexuellen Club auf mich zukam und mich kennenlernen wollte. Mit ihr war ich danach etwa ein Jahr zusammen und wir haben immer noch Kontakt (heute lebt sie mit Frau und Kind in San Francisco). Sie führte mich in die lesbische Community ein.

Die LGBT*IQ-Community in meiner Heimatstadt (ca. 2 Millionen Einwohner) war damals ziemlich groß, es gab einen Club für Lesben und einen für Schwule mit wöchentlichen Partys. In Moskau und Sankt Petersburg gab es natürlich noch mehr: mehr Clubs, mehr Partys, mehr Menschen wie wir, aber wir waren glücklich mit dem, was wir hatten. Natürlich war das alles nicht öffentlich und man musste sich auskennen, aber war man einmal drin, öffnete sich diese Parallelwelt, in der alle sich kannten und man so sein durfte, wie man wollte.

Dort habe ich meine Seelenmenschen gefunden, meine besten Freundinnen. Ich habe diese Parallelwelt geliebt, obwohl sie auch nicht perfekt war.

Ich war Studentin, hatte wenig Geld, wohnte bei meinen Eltern, die mich zwar liberal erzogen haben, aber von meiner sexueller Orientierung damals noch nichts wussten. Während ich mich in der Community so wohlfühlte, wurde die Außenwelt immer weniger tolerant – was ich aber erst später merkte.

Ende 2008 kam ich zum Studieren nach Deutschland, ohne zu wissen, wie lange ich bleiben würde … 14 Jahre später bin ich immer noch hier, glücklich mit meiner Frau verheiratet und mit einem tollen Job führe ich das Leben, das ich mir immer gewünscht habe. Ich fühle mich in Deutschland frei und sicher. Ich bin dankbar für alle Erfahrungen, die ich gemacht und alle Menschen, die ich getroffen habe. Ich bin dankbar für die Zeit, die ich in Russland erlebt habe und weiß, dass es dort heutzutage unvorstellbar und manchmal sogar gefährlich ist, Hand in Hand zu gehen. Trotzdem wünsche ich allen LGBT*IQ-Menschen, dass sie früh den Weg zu sich finden und nur die positiven Begegnungen haben. Denjenigen, die sich noch nicht trauen, kann ich nur sagen: „Habt keine Angst, ihr seid normal und nicht alleine!“

Liebe Oxana, vielen Dank für YourStory!
MYSTORY mit …

Jean-Luc
55 Jahre, Frankfurt

„Meine Eltern und Großeltern haben mir beigebracht,
dass die Zugehörigkeit zu einer Minderheit einen positiven
Wert hat und etwas ist, auf das man stolz sein kann. …“

Veröffentlicht: Mai 2022

Wurzelkraft.

Für mich und mein Engagement in der LGBT*IQ-Gemeinschaft sind meine Wurzeln und meine Herkunft sehr wichtig . Seit meiner Geburt gehöre ich zu einer Minderheit in Frankreich, als Protestant in einem sehr katholischen Land. Wir Protestanten repräsentieren etwa 2 Millionen Bürger_innen, das sind weniger als 3 % der französischen Bevölkerung. Wir sind eine starke Gemeinschaft, die sich sehr in Gesellschaft, Politik, Vereinen und Wirtschaft engagiert.

Meine Eltern und Großeltern haben mir beigebracht, dass die Zugehörigkeit zu einer Minderheit einen positiven Wert hat und etwas ist, auf das man stolz sein kann. Außerdem habe ich als Kind gelernt, dass Solidarität innerhalb und außerhalb der eigenen Gemeinschaft essentiell ist – und dass man anderen, die leiden oder abgelehnt werden, helfen sollte, ganz gleich, wer sie sind.

Auch Protestanten wurden in der Vergangenheit diskriminiert, vor allem im 17./18. Jahrhundert, nur wegen ihres Glaubens. Meine Familie hat diese Diskriminierung genauso erfahren wie andere protestantische Familien. Zum Beispiel durften wir früher unsere Toten nicht auf dem Friedhof begraben, sodass jede protestantische Familie einen kleinen Friedhof auf ihrem Grundstück hatte. Aus solchen Erfahrungen heraus wissen wir, wie sich Diskriminierung anfühlt – und das erklärt auch, warum wir Protestanten zum Beispiel während des Zweiten Weltkriegs vielen Juden geholfen haben. So habe ich gelernt, dass ich mich gegen jede Art von Diskriminierung in der gesamten Gesellschaft einsetzen muss.

Seit Generationen haben sich Mitglieder meiner Familie etwa in der Kirche und in der lokalen Politik engagiert. In der evangelischen Kirche werden die kirchlichen Angelegenheiten von einer Synode entschieden und verwaltet, einer Gruppe von Menschen aus 50 % Geistlichen und 50 % Kirchenmitgliedern. Mein Vater war über 20 Jahre lang Mitglied der Synode unserer Gemeinde. Meine Eltern und Großeltern waren auch sehr aktiv in den Gewerkschaften. Und ich bin der erste in meiner Familie, der eine Stiftung mitbegründet hat, worauf sie sehr stolz sind.

Ich habe von klein auf gesehen, wie wichtig und lohnend es ist, sich gesellschaftlich zu engagieren, Zeit für andere zu haben, und dass es möglich ist, positive Veränderungen zu bewirken.

… Vor etwa 23/24 Jahren habe ich mich geoutet und die erste große Liebe meines Lebens kennengelernt. Das gab mir viel Kraft und Selbstwertgefühl, was viele Veränderungen in meinem Leben mit sich brachte. Ich verließ die Universitätswelt, um meine Karriere bei der Deutschen Bank – und auch mein gesellschaftliches Engagement zu beginnen.

Im Jahr 2000 hatte ich dann das Glück, zur Gründungsveranstaltung von dbPride, dem LGBT*IQ-Netzwerk der Deutschen Bank, eingeladen zu werden – das war der Anfang von allem!!!

Von Anfang an, vor mehr als 20 Jahren, bis heute, waren meine Erziehung und meine Wurzeln der Schlüssel und die Hauptantriebskraft für meinen Einsatz für die LGBT*IQ-Gemeinschaft – und darüber hinaus … für eine respektvollere und tolerantere Gesellschaft.

Lieber JEan-Luc, vielen Dank für YourStory!
MYSTORY mit …

Louis
42 Jahre, Berlin

„Allen Schwierigkeiten zum Trotz fand ich
mit 20 den Mut, mich zu allen Facetten
meiner Identität zu bekennen. …“

Veröffentlicht: Mai 2022

Being QPOc.

Als QPOC in diesem mehrheitlich heteronormativen-cisgender, weißen Umfeld, habe ich sehr schnell gelernt, (un)bewusste Unterdrückungsphänomene zu identifizieren, um (relativ) sicher durch die Welt navigieren zu können. Das war einfach eine Frage des Überlebens  – zumindest kam es mir damals, zum Teil zu Recht, so vor. All diesen Schwierigkeiten zum Trotz fand ich mit 20 den Mut, mich zu allen Facetten meiner Identität zu bekennen – dank der Unterstützung von QPOC-Freund_innen, die ich in der Aktivist_innenszene kennengelernt habe und deren Geschichten mich motiviert haben.

Kurz nach meinem Coming Out hatte ich dann die Gelegenheit, nach Köln umzuziehen, um dort weiter zu studieren. Wie alle Gleichaltrigen in einer der queersten Hochburgen des Landes ging ich eines Nachts in eine der zahlreichen Diskotheken. Dort kam ein (weißer) Mann lächelnd auf mich zu, sprach mich aber auf Englisch an. Obwohl ich immer wieder Deutsch redete, antwortete er stets auf Englisch, was mich ein bisschen irritierte, da sein deutscher Akzent einfach zu erkennen war. Der Herr war höflich, nett, bot mir ein Getränk an. Obwohl die Unterhaltung ziemlich angenehm war, war mir klar, dass trotz seines Interesses nicht mehr daraus werden würde. Ganz höflich zeigte ich ihm dann, dass ich außer eines freundlichen Chats nichts mit ihm haben wollte. Plötzlich kam aus dem Nichts die Aussage, die mich völlig vom Hocker warf:

„Why do you have to play hard to get, when a white man is interested in you?“

Mir fiel mir die Kinnlade runter … ich war baff. Der Mann schüttelte seinen Kopf und ging weg. Er dachte wohl, meine fassungslose Reaktion lag daran, dass ich gekränkt war, dass er plötzlich jegliches Interesse an mir verloren hatte – und nicht am rassistischen Beiklang seiner Aussage …

Anfangs dachte ich, dies wäre ein Einzelfall. Unsere gemeinsamen Erfahrungen als queere Menschen hätten aus uns ähnlich eingestellte Menschen gemacht, die sich besser als andere in die Haut jeglicher Minderheiten hineinversetzen können, dachte ich naiv. Wie konnten Menschen, die wie ich Ausgrenzung und Diskriminierung erlebt hatten, die Kühnheit haben, sowas schamlos öffentlich zu äußern? Es war mir damals einfach unvorstellbar, geschweige denn verständlich … bis andere QPOC-Freund_innen mir im Laufe der Zeit ähnliche, manchmal schrecklichere Geschichten erzählten. Da musste ich zur Erkenntnis kommen, dass die queere Community (vor allem der männlich dominierte Mainstream) neben den schon längst identifizierten Themen Sexismus und Transphobie, aller Verleugnung und allem Jammern zum Trotz, leider auch von Rassismus geplagt ist. Und (un)bewusst die rassistischen (aber auch sexistischen) Unterdrückungsmechanismen der allgemeinen Gesellschaft aufrechterhält. Dieses Ungleichgewicht im Machtverhältnis spiegelt sich auch am Arbeitsplatz in meinen Interaktionen mit anderen (weißen) queeren Kolleg_innen wider.

Daher besteht die nächste große Herausforderung für die LGBT*IQ-Community darin, diese Diskussionen und die daraus abgeleitete Arbeit intersektionaler fortzuführen. Das tue ich jeden Tag, sowohl in meiner Rolle als D&I-Manager, als auch in meiner privaten Sphäre, weil es in diesem Gebiet tatsächlich noch wahnsinnig viel zu tun gibt …

Lieber Louis, vielen Dank für YourStory!