MYSTORY mit …
marit
60 Jahre, ludwigsburg
„Trans* ist etwas Wunderbares – dieser Satz fasst zusammen, was ich als Gender-Euphorie bezeichne.“
Veröffentlicht: Januar 2024
Coming-Out-Geschichten gibt es sehr viele und bei den meisten trans* Personen ähneln sie sich auf verblüffende Weise, obwohl wir sehr wohl alle einen sehr individuellen Weg gehen. Daher möchte ich auf meine verschiedenen Coming-Outs gar nicht eingehen.
Ich bin 60 Jahre alt und lebe seit fast vier Jahren offen als Frau – 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr. Das hat mein Umfeld recht abrupt erfahren müssen. Bis auf meine Partnerin und wenige vertraute Menschen war niemand vorbereitet. Trotzdem hat sich für kaum jemanden etwas verändert, als ich plötzlich als Frau aus der Tür ging. Hier möchte ich schildern, was mich auf meinem Weg begeistert hat und was mein Leben aus der Grauzone geholt hat.
Trans* ist etwas Wunderbares – dieser Satz fasst zusammen, was ich als Gender-Euphorie bezeichne.
Ein großer Moment war für mich mein erster Auftritt als Frau bei einem Seminargruppentreffen. Bis auf eine knappe Mail hatte ich vorab nichts über meine Veränderung verlauten lassen. Nachdem ich einige der Teilnehmenden länger nicht gesehen hatte, haben mich nicht alle sofort erkannt – doch das ging mir genauso. Die Verblüffung war zunächst groß, doch dann war das Eis gebrochen und die einhellige Meinung war, dass die anwesenden Damen (mich inbegriffen) sich besser gehalten haben als die doch mehr oder weniger gealterten Herren. Als ich dann wie selbstverständlich in die Runde der wenigen Frauen aufgenommen wurde, war klar, dass ich in meiner Welt angekommen bin.
Eigentlich war eine Hormontherapie nicht mein Ziel, doch ich wollte meine Haare nicht verlieren, also habe ich mich darauf eingelassen, Testosteron durch Östrogen zu ersetzen. Was ich nicht wusste, war, dass sich nicht nur mein Körper umstellt und plötzlich kälteempfindlich wird sowie weniger kräftig. Auch meine Gefühle konnte ich auf einmal wahrnehmen und zulassen. So stand ich dann mitunter in der Küche und hatte ohne äußeren Anlass Tränen in den Augen – vor Glück, dass mir das alles noch möglich geworden ist, was ich vorher nie erwartet hätte. Später gab es auch traurige Anlässe zum Weinen wie Abschiede oder zerbrochene Freundschaften.
Selbstbewusstsein war nie mein Ding als Mann. Woher auch, ich war ein Wesen, dass mit sich selbst nicht im Reinen war. Immer war ich in Abwehrhaltung, hatte Angst, Fehler zu machen oder mich zu blamieren. Vor lauter Vorsicht war ich nahezu unsichtbar.
Als Frau habe ich jetzt den Mut, Dinge zu tun, Entscheidungen zu treffen und Hilfe anzunehmen. Warum? Was soll schon passieren, wenn mal was schiefgeht? Ich bin schließlich ein Mensch mit Stärken und Schwächen und darf Fehler machen, aber auch erfolgreich sein.
Im Beruf war das am deutlichsten zu spüren. Meine Kolleg_innen akzeptierten mich, auch wenn ich mich oft weit aus dem Fenster gelehnt habe und manchmal zurückrudern musste.
Sind Frauen im Beruf gegenüber Männern benachteiligt? Ja, und das hat überwiegend strukturelle Gründe und ist weniger durch unterschiedliche Persönlichkeitsmuster bedingt. Dennoch sehe ich als spätberufene Frau mit männlicher Sozialisation die (Arbeits-)Welt automatisch immer aus zwei Perspektiven. Einerseits kenne ich die „typisch männlichen“ Verhaltensmuster wie Konkurrenzdenken oder Angst vor Versagen und kann mich darauf einstellen. Andererseits habe ich in den letzten Jahren „typisch weibliche“ Eigenschaften wie Kommunikationsfähigkeit, Empathie oder auch Kooperationsbereitschaft weiterentwickelt und setze diese bewusst im Sinne des jeweiligen Teamziels ein. Es begeistert mich immer wieder, dass ich gerade als Frau viel wirksamer in meiner Arbeitsumgebung bin als zuvor in meiner aufgezwungenen Männerrolle.
Eine wichtige Voraussetzung für meine Transition war die Unterstützung durch meinen Arbeitgeber. Das Statement des Managements für Diversity und gegen Diskriminierung hat es mir erlaubt, meinen Weg ohne Existenzängste anzugehen. Allerdings bekam ich kaum Unterstützung bei der praktischen Umsetzung. Jeden Schritt musste ich mir selbst erarbeiten und die nötigen Informationen beschaffen. Auch hatte ich keinerlei Vorbilder in meiner Arbeitswelt bis auf eine Kollegin im queeren Firmennetzwerk, die für sich eine Vornamensänderung erreicht hatte.
Diesen Zustand wollte ich verbessern und habe parallel begonnen, Online-Trainingssessions zum Thema Transgeschlechtlichkeit anzubieten und außerdem einen Firmenleitfaden zu verfassen. Meine Vorträge sind inzwischen gut besucht und tragen so zur Sichtbarkeit von Transgeschlechtlichkeit am Arbeitsplatz bei. Sie holen das Thema aus der dunklen Tabu-Ecke. Mit unserem Transgender-Guide haben wir viele positive Rückmeldungen bekommen und bald soll eine englischsprachige Version erscheinen. Freiwillige für die Übersetzung in andere Landessprachen haben sich schon gemeldet.
Positive Sichtbarkeit hat sich immer mehr zu einer Herzensangelegenheit für mich entwickelt. Negative Sichtbarkeit für trans* Personen gibt es schon genug und dem möchte ich etwas entgegensetzen.
So habe ich begonnen, meine Erfahrungen im Unternehmensumfeld als Beratungsleistung für andere Firmen anzubieten. Allerdings ist Sichtbarkeit oder auch Reichweite im Online-Business ausschlaggebend und da habe ich noch jede Menge zu erreichen. Mein neues Projekt hat zwar Potential, aber noch einen weiten Weg vor sich.
Ich möchte meine Gedanken mit einem persönlichen Erlebnis schließen, das mir gezeigt hat, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Vor einigen Wochen habe ich in einem Gebäude mit viel Glas eine attraktive Frau durch ein Fenster gesehen. Es war nur die obere Hälfte des Gesichts erkennbar und sie hat intensiven Blickkontakt gehalten. Sie war mir sofort sympathisch und ich wollte sie erreichen und ansprechen. Als ich mich in Bewegung setzte, bemerkte ich, dass ich sie schon kenne. Diese Frau war ich – gespiegelt im Fensterglas in der Dämmerung.
Es gibt viele schöne, kleine und große Begebenheiten und Entwicklungen auf meinem Weg – genauso wie auf dem Weg aller anderen trans* Menschen. Das möchte ich hier teilen, um in dieser schwierigen Zeit den Blick auf das Positive zu lenken.