Leon Dietrich

MYSTORY mit …

Leon
43 Jahre, Hannover

“Manchmal braucht es Zeit
und Vorbilder, die
Veränderungen herbeiführen. …”

Veröffentlicht: Mai 2022

EIn Leben, Zwei Outings plus Migrationsgeschichte – Eine Schublade ist genug!

Seit meiner Geburt und in den ersten Momenten der Wahrnehmungen meiner selbst wusste ich, dass ich nicht in dieses vorhandene Körperkostüm und in die „klassische“ Rollenverteilung passte. Die zugewiesenen Farben (Rot und Pink) und die Vorstellungen der Gesellschaft waren mit meinem Ich nicht kompatibel. Ich wurde dennoch – ohne dass man mir zuhörte oder mich in meinem Dasein erkannte – in das weibliche System gedrückt. Sei es durch die Erziehung oder die gesellschaftlichen Vorgaben in Kindergarten, Schule, Ausbildung und Arbeitswelt. Damals waren Transidentität und Intergeschlechtlichkeit noch nie so sichtbar wie heute.

Es gab keine Wissensvermittlung, Anlauf- und Beratungsstellen – einfach nichts, obwohl trans* und inter* Menschen existieren, seitdem es Lebewesen auf dem Planeten Erde gibt.

So wehrte ich mich von Kindesbeinen an gegen dieses weibliche Kostüm und flüchtete viele Jahre in die lesbische Schublade, in der ich für meine damaligen Begriffe annährend ich sein, männliche Kleidung tragen durfte und mich so verhalten konnte wie ich wollte, eben für mich nicht weiblich. Ich nahm dieses „Versteck“ in Kauf und outete mich wie selbstverständlich bei allen Menschen in meinem Umfeld als lesbisch. Die Reaktionen, vielen Fragen, Vorurteile und Diskriminierungen waren mir aufgrund meiner schottisch-türkischen Migrationsgeschichte von klein auf sehr geläufig – ich war quasi schon „trainiert“ darin, diese Diskriminierung auf allen Wegen auszuhalten zu müssen. Was blieb mir auch anderes übrig?

Meine Mutter war nicht überrascht und meinte, ich sei ja sowieso immer wie ein Junge gewesen. Mit dem Unterschied, dass ich schon immer einer war und bin. Sie wusste es nicht besser, woher denn auch? Der Rest der deutsch-schottisch-türkischen Verwandtschaft reagierte unterschiedlich. Von „das wussten wir schon immer“ bis „dieser Mensch kommt nicht mehr in mein Haus“ war alles dabei.

Es war ein enormer Kraftakt für mich, all die Jahre in mir selbst gefangen zu sein. Jedes Mal, wenn ich den Mut hatte, wirklich „herauszukommen“, passierte etwas, das mich zurückwarf: aus Angst vor den Reaktionen meiner Familie, Freund_innen, Kolleg_innen, Angst vor dem Verlust meines Traumberufes, Angst vor der Trennung meiner damaligen Frau. Und irgendwann lernst du, diese Rolle zu spielen, versuchst dir einzureden, es wird schon auch so irgendwie lebenswert sein.

Doch das ICH-sein-dürfen, frei sein können und der Wunsch, dieses Körperkostüm verschwinden zu lassen, wurde im Laufe der Jahre immer stärker und stärker. Sich vor dem Spiegel anzuschauen und – damals als Kind wie im Erwachsensein – den Wunsch zu verspüren, diesen Ballast einfach abzuwerfen und endlich glücklich und frei sein zu können … dieser Traum, dieses Gefühl war kräftezerrend und unerreichbar, denn ich konnte nicht aus mir heraus. Die Angst war viele Jahre zu groß.

Immer, wenn Beiträge über trans* Menschen erschienen oder ich sie auf dem CSD sah, kam dieses Gefühl und der Wunsch nach Freiheit hoch. Innerlich war ich zerrissen, aber ich versuchte, zu funktionieren, immer wieder aufzustehen und mir einzureden „du schaffst das schon“.
Als ich mich 2018 bei meiner Frau outete und über den großen Wunsch sprach, mich aus den Ketten des Leidens lösen zu wollen, weil ich so nicht mehr kann und will und mich genauso fühle wie Balian B., löste ich großes Entsetzen aus und musste die klassischen Reaktionen über mich ergehen lassen:
„Du willst doch kein Mann sein. Ich liebe dich so, wie du bist. Ich liebe deine weibliche Oberweite. Klar bist du sehr männlich, aber ich mag auch die weibliche Seite. Ich möchte keinen Mann mit Bart und vielen Haaren. Du bist doch gut so wie du bist, warum meinst du, nun ein Mann sein zu wollen? Wenn du das tatsächlich machen wirst, dann lasse ich mich scheiden …“

Das war nur ein Bruchteil der Sätze, die mir durchs Mark rauschten und jedes Mal höllische Schmerzen verursachten. Ich liebte diesen Menschen über alles, und ich versuchte, auch ihre Seite zu verstehen, aber wollte sie mich denn verstehen? Nach dem Gespräch mit meiner Frau entschied ich mich zunächst für uns und unsere Ehe und versuchte, die Sehnsucht wieder zu vergraben. Nur merkte ich, dass es mir nicht mehr so gut gelang, da die Sehnsucht und der Leidensdruck sehr schwer auszuhalten waren. Zweieinhalb weitere lange Jahre und immer wiederkehrende Gespräche mit meiner Frau später: „Wenn du das tust, lasse ich mich scheiden.“

Dann lernte ich tolle Menschen kennen, die genauso waren wie ich, mit identischen Lebensgeschichten. Diese beiden Menschen gaben mir die Kraft für meinen nächsten Schritt: 2020 kam Corona und aufgrund der vielen Streitigkeiten mit meiner Frau zog ich vorübergehend mit meinem damaligen Hund, einer französischen Bulldogge, aufs Land.

Dort hatte ich viel Zeit zum Nachdenken – das erste Mal, dass ich mir viel Zeit für mich nahm und nicht immer nur für andere Menschen parat- oder zurückstand. Endlich war ich dran!

Einfach ALLES aus den vergangenen Jahren kam nach oben geschossen wie eine Tornadowelle. In den 4 Wochen veränderte sich mein Leben im Sekundentakt. Meine Frau verwirklichte ihre Androhung und ich stand alleine da. Und durch einen örtlichen Berufswechsel stand ich auch dort vor einem Neuanfang.

Ich nahm nach 41 Jahren all meinen Mut zusammen und outete mich ein zweites Mal. Wenn nicht jetzt, wann dann? Zunächst bei meinem inneren Freundeskreis, dann bei meinen Kolleg_innen und zu guter Letzt bei meinen Vorgesetzen. Die Resonanz war überwiegend sehr positiv!

Seit 2 Jahren fühle ich mich endlich frei und ich bin froh, diesen wichtigen Schritt gegangen zu sein, auch wenn er aus vielen unterschiedlichen Gründen viele Jahre gedauert hat. Manchmal braucht es Zeit und Vorbilder, die Veränderungen herbeiführen. Heute darf ich ein Vorbild sein und möchte vielen Menschen Mut machen. Hab keine Angst, denn Du bist nicht alleine! Es ist wichtig, geschlechtliche Vielfalt und die unterschiedlichen Facetten sichtbar zu machen und das Wissen darum in alle Bereiche zu bringen. Rückblickend frage ich mich manchmal, woher ich die Kraft entwickelt hatte, immer wieder aufzustehen und weiterzugehen. Es waren die vielen tollen Menschen um mich herum, die mir Kraft und Mut gegeben haben. Natürlich auch meine Lust und Freude am Leben und die Tatsache, anderen Menschen Mut und Kraft geben zu können.
Die Erlebnisse haben mich zu dem Menschen geformt, der ich heute bin, mit all meinen Facetten:

Mein Name ist Leon Dietrich, mein Geburtsort ist die Erde, meine Nationalität ist Mensch, meine Politik ist die Freiheit, meine Religion ist die Liebe und ich liebe Menschen und unsere Demokratie!

Lieber Leon, vielen Dank für YourStory!

Leon Dietrich

MYSTORY With …

Leon
43 Years, HaNnover

“Sometimes it takes time and
role models to bring change. …”

Published: May 2022

One Life, Two Outings plus Migration Story – One box is enough!

Since my birth and in the first moments of the perceptions of myself, I knew that I did not fit into this existing body costume and into the “classical” distribution of roles. The assigned colors (red and pink) and the ideas of society were not compatible with my self. I was nevertheless – without being listened to or recognized in my existence – pushed into the female system. Be it through education or the societal guidelines in kindergarten, school, training and the work world. At that time, transidentity and intersexuality were not yet as visible as they are today.

There was no knowledge transfer, contact and counseling centers – simply nothing, although trans* and inter* people have existed since there are living beings on planet earth.

So I resisted this female costume since childhood and fled for many years into the lesbian identity, in which I was allowed to be more or less me, wear male clothes and behave as I wanted, simply not female for me. I accepted this “hiding place” and outed myself as a lesbian to all the people around me as a matter of course. The reactions, many questions, prejudices and discriminations were very familiar to me due to my Scottish-Turkish migration history from an early age – I was already “trained” in having to endure this discrimination in all ways. What else could I do?

My mother was not surprised and said that I had always been like a boy anyway. With the difference that I always was and am one. She didn’t know any better, how could she? The rest of the German-Scottish-Turkish relatives reacted differently. From “we always knew that” to “this person is not coming into my house anymore” everything was there.

It was a tremendous effort for me to be hidden inside myself for all those years. Every time I had the courage to really “come out”, something happened that set me back: fear of the reactions of my family, friends, colleagues, fear of losing my dream job, fear of the separation from my former wife. And at some point you learn to play this role, try to convince yourself that it will be worth living somehow.

But the I-am-allowed, to be free and the desire to let this body costume disappear, became stronger and stronger over the years. To look at myself in front of the mirror and – then as a child as well as in adulthood – to feel the desire to simply throw off this ballast and to finally be able to be happy and free … this dream, this feeling was energy-draining and unattainable, because I could not get out of myself. The fear was too great for many years.

Whenever articles about trans* people appeared or I saw them at the CSD, this feeling and the desire for freedom came up. Inside I was torn, but I tried to function, to get up again and again and tell myself “you can do it”.
When I came out to my wife in 2018 and talked about the great desire to break free from the chains of suffering, because I can’t and don’t want to be like that anymore and feel the same way as Balian B., I triggered great shock and had to endure the classic reactions: “You don’t want to be a man. I love you the way you are. I love your feminine bust. Sure you are very masculine, but I also like the feminine side. I don’t want a man with a beard and lots of hair. You are good the way you are, why do you think you want to be a man now? If you are actually going to do this, then I will divorce you …”

That was only a fraction of the sentences that rushed through my insides and caused hellish pain every time. I loved this person more than anything, and I tried to understand her side as well, but did she want to understand me? After the conversation with my wife, I first decided for us and our marriage and tried to bury the longing again. Only I noticed that I didn’t succeed so well anymore, because the longing and the suffering pressure were very hard to bear. Two and a half more long years and recurring conversations with my wife later: “If you do this, I’ll divorce you.”

Then I met great people who were just like me, with identical life stories. These two people gave me the strength to take my next step: in 2020 came Corona, and because of all the arguments with my wife, I temporarily moved to the country with my dog at the time, a French bulldog.

There I had a lot of time to think – the first time that I took a lot of time for myself and was not always available for other people. Finally it was my turn!

Simply EVERYTHING from the past years came shooting up like a tornado wave. In the 4 weeks my life changed by the second. My wife realized her threat and I stood alone. And due to a local change of profession, I was also facing a new beginning there.

I took all my courage after 41 years and outed myself a second time. If not now, when then? First with my inner circle of friends, then with my colleagues and finally with my superiors. The response was mostly very positive!

Since 2 years ago I finally feel free and I am glad to have taken this important step, even if it took many years for many different reasons. Sometimes it takes time and role models to bring change. Today I am allowed to be a role model and would like to encourage many people. Do not be afraid, because you are not alone! It is important to make gender diversity and the different facets visible and to bring the knowledge about it into all areas. Looking back, I sometimes wonder where I had developed the strength to get up again and again and keep going. It was the many great people around me who gave me strength and courage. Of course also my desire and joy in life and the fact to be able to give courage and strength to other people.
These experiences have shaped me into the person I am today, with all my facets:

My name is Leon Dietrich, my birthplace is the earth, my nationality is human, my politics is freedom, my religion is love and I love people and our democracy!

Dear Leon, Thank you very much for YourStory!